Philippe Grimbert erzählt in seinem wunderbaren Buch "Ein Geheimnis"
eine Geschichte von Scham und Schuld.
Schuldig geboren, lautet das Urteil. So jedenfalls empfindet es der Junge Philippe, der darunter leidet, daß er seinen Eltern nicht genügen zu können glaubt. Sie erscheinen ihm als perfektes Paar: schön, stark, selbstbewußt, austrainierte Sportler. Philippe dagegen, das einzige Kind aus dieser Verbindung, ist schwach, ängstlich, kränklich. Ein Kümmerling, wie er selber sagt. Und er spürt die Enttäuschung seines Vaters Maxime: "Sein erster Blick hat Spuren in mir hinterlassen, und den Schimmer von Bitterkeit habe ich in seinen Augen immer wieder entdeckt."
Stark entwickelt aber ist Philippes Phantasie. Er imaginiert sich einen Bruder, hinter dem er sich verstecken will. Das Phantom wird zum Vertrauten, zugleich ist er jedoch ein Konkurrent, den Philippe zuweilen so verabscheut wie sich selbst und töten möchte.
Der Pariser Psychoanalytiker Philippe Grimbert erzählt in seinem wunderbaren, tief berührenden kleinen Roman "Ein Geheimnis" eine autobiographisch motivierte Geschichte von Scham und Schuld. Im Hintergrund steht das Unbehagen der potentiellen Opfer, die den Holocaust überlebt haben und sich ohne Aussicht auf Antwort fragen: Warum die anderen und nicht ich? Bei Grimbert wird das Problem noch zugespitzt: Denn hier scheint das Leben der einen nur durch den Tod der anderen möglich geworden.
Tatsächlich ist Philippe ein Kind der Schuld. Doch er muß erst ein Familiengeheimnis aufdecken, um die wahre Schuld zu begreifen und die langen Schatten, die sie wirft. Die Heimlichkeiten beginnen bereits beim Namen der aus Bukarest eingewanderten jüdischen Familie Grinberg, der aus Gründen der besseren Assimilation in Paris zu Grimbert verwandelt wurde. Doch selbst die Verschleierung ist verräterisch: "Ein ,m' für ein ,n', ein ,t' für ein ,g', zwei winzige Veränderungen. Aber das , aime' (sprich m; Liebe) hatte das ,haine' (n; Haß) verdeckt; da ich des ,j'ai' (g; ich habe) beraubt war, gehorchte ich von nun an dem Gebot des ,tais' (t; schweig)."
Erst als Philippe in einem Akt der Selbstbefreiung sich zu seinem Jüdischsein bekennt und bei einer Holocaust-Filmvorführung eine Schlägerei mit einem unverschämten Klassenkameraden anfängt, findet er den Weg in die dunkle Vergangenheit seiner Eltern Maxime und Tania, deren Liebesgeschichte anders verlaufen war, als er es sich zusammenfabuliert hatte.
Beide waren verschwägert und ineinander verliebt. Maxime hatte mit seiner ersten Frau einen Sohn, Simon, der Philippe sehr an seinen Phantombruder erinnert. Unter der Bedrohung der deutschen Besatzer führt die komplizierte Familiensituation zu einer Tragödie: Maximes Frau und der gemeinsame Sohn werden deportiert. Philippe erfährt, daß seine Eltern ihr Glück und er seine Existenz dem Verschwinden der anderen zu verdanken haben: "Ich konnte nur unter diesen Umständen geboren werden, seine Stärke machte meiner Schwäche Platz."
(Lutz Wendler, Hamburger Abendblatt, 17.Juni 2006)
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