Dienstag, November 29, 2005

Peter Gingold - einer der letzten lebenden Widerstandskämpfer






Im März 2006 wird er 90 Jahre alt: Peter Gingold, gebürtiger Aschaffenburger und heutiger Wahl-Frankfurter. Doch der alte Mann ist - abgesehen von einer momentanen Bronchitis - fit wie ein Turnschuh und sagt gerne über sich, dass er sich noch immer wie ein Jugendlicher fühlt. Vielleicht liegt es daran, dass er morgens joggt, dass er selbstverständlich mit dem Fahrrad zum Bahnhof fährt, wenn er, wie so oft, auf Reisen geht. Vielleicht liegt es daran, dass er sich gerne unter jungen Menschen aufhält. Ende Mai verschlug er erst im Kulturzentrum Kreuz in Fulda, als Redner der Veranstaltung „Aufmucken gegen Rechts“ der Jugendorgansiatioon „Solid”, mehreren hundert Jugendlichen die Sprache. Anfang Juli faszinierte er in zwei aufeinander folgenden Schulveranstaltungen in Niederaula die Schüler zweier Gesamtschulklassen.


Das, was er erzählt, sind Geschichten aus einer Zeit, die in Filmen wie „Die Weiße Rose“ oder und noch abstrakter - im normalen Geschichtsunterricht Gegenstand, aber ansonsten alles andere als gegenwärtig sind. Doch er erzählt davon, als wäre es gestern gewesen - authentisch, aus seiner persönlichen Vergangenheit, aus seinen Erlebnissen, die ihn noch heute - im wahrsten Sinne des Wortes - bewegen. Seine Erinnerungen reichen zurück bis in die Zeit der untergehenden Weimarer Republik. Dort war er mitunter in der Gewerkschaftsjugend aktiv. Er ist Kriegsveteran. Er hat den Zweiten Weltkrieg erlebt. Doch war er nicht unbeteiligter Beobachter, nicht in der Wehrmacht oder Waffen-SS. Peter Gingold war im Widerstand. 1933 begann sein Engagement im illegalen Widerstand gegen Hitler-Deutschland.
Bei einer Razzia der SA wurde er verhaftet und nach mehreren Monaten Gefängnis aus Deutschland verbannt. Er emigrierte nach Frankreich, wurde dort Mitglied der französischen Widerstandsbewegung, der Résistance.


Der gebürtige Jude, Sohn eines Konfektionsschneiders, entging dem Schicksal vieler Verwandter, Freunde und Bekannter, auch zweier seiner Geschwister, die im Vernichtungslager Auschwitz umkamen. Er versteht es als Glück, dass er und seine inzwischen verstorbene Frau Ettie Gingold der Résistance angehörten. Beide lernten sich 1936 innerhalb des französischen Widerstands kennen. „Obwohl wir jeden Tag das Leben riskierten, hat uns die Résistance vor Auschwitz gerettet“, sagt Gingold. So entging er knapp dem scheinbar sicheren Tod, hatte ihn doch die SS gefangen genommen, inhaftiert, verhört, schwer gefoltert und zum vermeidlichen Kopf der Partisanen, dem bewaffneten Widerstands in der Region Dijon (Frankreich), erklärt. Tatsächlich war seine Aufgabe unter anderen, den Kontakt zu Soldaten der deutschen Wehrmacht herzustellen, um Hitler-Gegner herauszufinden und für die Zusammenarbeit mit der Résistance zu gewinnen.


Der fast 90-Jährige ist heute als „Handlungsreisender” permanent unterwegs. Nach eigenem Verlautbaren ist er einer der letzten drei derart mobilen Zeugen einer Zeit, die bald nur noch aus zweiter Hand vermittelt werden kann. Seine besonderen Geschichten bringt der gefragte Zeitzeuge zu jungen Menschen. Er erzählt ihnen von seiner eigenen Jugend, seinen Auseinandersetzungen mit der Hitler Jugend, von seinen Widerstandsaktionen gegen das Dritte Reich, von seinen Freunden und Gefährten, von seiner Festnahme 1943, von Folter und seiner spektakulären Flucht aus den Händen der Pariser Gestapo (Geheime Schutzpolizei). Dabei entwickelte er nach seiner Überführung von Dijon nach Paris den Plan, die ihn verhörenden SS-Offiziere auszutricksen. Er spielte den Zusammengebrochenen, der nun bereit sei, seine Kontaktperson preiszugeben. Angeblich erwartete er diese Frau immer, wenn sie Werktags morgens um 9 Uhr vor der Haustür eines Hauses am Boulevard St. Martin zur Arbeit ging. In diesem Haus, von aussen nicht sichtbar, konnte man durch einen hinteren Ausgang zu einer Parallelstraße gelangen. „Als die Gestapo mich ungefesselt vor die Tür brachte, ich angeblich auf meine Kontaktperson wartete, konnte ich in das Haus springen und hinter mir die Türe zuschlagen, die dann nur noch von innen geöffnet werden konnte”, erzählt Peter Gingold.
Schon bald war er wieder in der Résistance tätig und beteiligte sich schließlich im August 1944 am Aufstand zur Befreiung von Paris, diente in dem vom Colonel Fabien geführten 1. Pariser Regiment und war als Frontbeauftragter des CALPO, so die französische Abkürzung für das Komitee „Freies Deutschland für den Westen“, eingesetzt.


Fast schon exotisch mutet es an, wenn der rüstige Alte heute zügig durch die Pausenhalle der Schule geht, einen Rucksack mit Dokumenten aufgeschultert, immer freundlich, sich interessiert umschauend, dann nach einer Doppelstunde pausenlos in die nächste schreitet.
Wenn es die Gruppengröße zulässt, zieht es Gingold vor, nicht frontal vor einer Klasse zu dozieren, sondern setzt sich zu den Schülern, am liebsten in einen Kreis.
Peter Gingold, natürlich von den Lehrern angekündigt und eingeführt, beginnt die möglicherweise noch nicht ganz so betroffenen Pennäler mehr und mehr in seinen Bann zu ziehen. Er zeigt den Jugendlichen auf, dass er, der heute als alter Mann vor ihnen sitzt, von etwas berichten kann, was er als Jugendlicher im Alter seiner Zuhörer und später als junger Erwachsener vor 75, vor 60 Jahren erlebt hat. Er verkündet, dass es eine Chance sei, die vielleicht nie wieder käme, mit ihm hier und heute in Dialog zu treten, ihm Fragen zu stellen, ihn eben als einen der letzten Zeitzeugen zu nutzen. Immer wieder geht er auf seine jungen Zuhörer ein und macht begreifbar, was so unglaublich weit weg zu sein scheint. Er hat es erlebt, er war dabei, er erlitt am eigenen Leib, was heutige Jugendliche im behüteten Westen nur noch aus Filmen und Ballerspielen kennen. „Wir haben überlebt mit dem einzigen Vorsatz: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“
Dabei sei er kein Held gewesen. „Ihr hättet es an meiner statt genauso gemacht“, will der Widerstandskämpfer seinen Zuhörern Glauben machen. Das ist seine Art der Motivation, junge Menschen wachzurütteln und zum Widerstand gegen die abermals aufkeimende Fremdenfeindlichkeit aufzurufen.
Voll Spannung lauschen die Schüler seinen unglaublichen Erlebnissen. Dann zeigt er Fotos, die Kopie von einem gefälschten Pass, mit dem er in Frankreich im Untergrund agierte. Auf dem Passbild erkennt man den jungen Peter Gingold und alles wird noch begreiflicher, ist noch anschaulicher.


Gingold erzählt, dass er besondere Hochachtung vor den Frauen im Widerstand habe. Diese hätten oft Dinge vollbracht, zu denen die männlichen Widerständler nicht im Stande gewesen wären. So haben sie zum Beispiel Waffen in Kinderwagen geschuckelt, haben Wehrmachtsoldaten ausgehorcht und für den Widerstand angeworben.
Er berichtet von seinen Aktivitäten Anfang der 1930er Jahre in Frankfurt. Zu dieser Zeit war es nicht möglich, einfach Informationsblätter zu verteilen oder ungestraft seine vom NS-Regime abweichende Meinung zu verbreiten. Er hat, ähnlich der Weißen Rose, in Treppenhäusern Flugblätter fallen lassen. Mit Hilfe einer Dose, mit Wasser gefüllt und unten einem Loch, auf einem Brett stehend, auf der anderen Seite ein Stapel Flugblätter, wurde eine Zeitverzögerung geschaffen, die ausreichte, um unbemerkt zu verschwinden, bevor sich die Flugblätter über der Frankfurter Zeil, auf die laufenden Passanten verteilten.
Ein weiteres Beispiel erzählt er von raffinierter Gegenpropaganda: Ein Pärchen sei des Abends mit einem Koffer unterwegs gewesen. Dieser musste abgestellt werden, um sich zu küssen. Die dabei unten am Koffer angebrachte, zuvor in unabwaschbare Farbe getauchte Linoleumplatte, in die ein Aufruf zum Widerstand gegen Hitler geschnitzt war, wurde auf den Boden gestempelt.


Wenn Peter Gingold von seinen Inhaftierungen und von Folter berichtet, dann können es manche Zuhörer nicht fassen, was sie zu hören bekommen. Doch er kokettiert nicht, er prahlt nicht, sondern beschreibt das Unfassbare eindringlich, dass man als Zuhörer mitfühlen muss, möglicherweise erstmals versteht.
Nicht selten geschieht es, dass die Schüler derart berührt sind, dass sie am Ende, nach dem offiziellen Teil der Veranstaltung, zu Peter Gingold gehen, um ihm persönlich zu danken, ihm zu erklären, dass sie etwas mitnehmen. Genau das ist es, was er bezwecken möchte, ob vor Dutzenden im Klassenzimmer, Hunderten im KUZ Kreuz, Tausenden in Publikationen oder Millionen, die Peter Gingolds Geschichten, von ihm insbesondere in den letzten Monaten in Dokumentationen in ARD und ZDF, erzählt bekamen.


Peter Gingold ist Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN/BdA), Vorstandsmitglied im Verband Deutscher in der Résistance, in den Streitkräften der Antihitlerkoalition und der Bewegung „Freies Deutschland“ e.V. (DRAFD) und Vorsitzender des Deutschen Auschwitzkomitees.
Auf Einladung des französischen Präsidenten Jacques Chirac nahm er an den Feierlichkeiten zur 60. Wiederkehr des D-Day in der Normandie teil.
Er ist Träger zahlreicher deutscher und französischer Preise, Orden und Auszeichnung.
Solange es seine Gesundheit zulässt will Peter Gingold weiterhin jungen Menschen von der Vergangenheit erzählen, um für die Gegenwart und Zukuft zu warnen.--Timo Schadt


Literatur-Tipp:
Karl H. Jahnke: „Sie haben nie aufgegeben - Ettie und Peter Gingold - Widerstand in Frankreich und Deutschland“, 251 Seiten, Pahl-Rugenstein Verlag Nachf. GmbH

2 Kommentare:

nilzenburger hat gesagt…

super, so jemanden hätte ich mir in der schule auch damals gewünscht. das ganze dritte reich und so ist so abstrakt, man kann es zwar lesen und bilder sehen, aber es bleibt immer etwas absurd abstraktes, da kann ein zeitzeuge genau richitg sensibilisieren. bei mir hat dieses gefühl ein film ausgelöst, und zwar dieser hier. da habe ich das erstemal ansatzweise begriffen was da los war, wie es sich angefühlt hat, wie verzweifelt die menschen waren.

Anonym hat gesagt…

Ja, diese Dokumentation ist klasse, ich hab sie auch noch irgendwo auf Video, ein wirklich erschreckendes und ernüchterndes Dokument, bei dem es einem eiskalt den Rücken herunterläuft. Diese furchtbare Emotionslosigkeit dieses Technokraten ist einfach unglaublich, du hast Recht, da bekommt man eine Ahnung davon, wie es sich angefühlt haben muss, solchen Menschen ausgeliefert zu sein, die ohne jegliches Mitgefühl und Erbarmen gnadenlos ihre Zwangsneurosen ausleben. Schlimm ist nur und das macht mir immer noch Angst, dass sich Charaktere über die Jahrhunderte oder gar Jahrtausende nicht ändern, ich meine damit, dass es diese Typen immer wieder geben wird und gibt. Und gerade darum ist es so toll, Menschen zu erleben wie Peter Gingold! Das macht Mut und gibt Kraft, der Verzweiflung zu widerstehen!